Mechanismus der Toxizität
Giftviperngifte sind eine komplexe Kombination aus enzymatischen und nicht-enzymatischen Proteinen (Kasten 75-1). Der primäre Zweck des Giftes ist nicht die Tötung, sondern die Ruhigstellung der Beute und die Vorverdauung ihres Gewebes. Das Gift wird aus modifizierten Speicheldrüsen gewonnen. Das Gift besteht zu 90 % aus Wasser und enthält mindestens 10 Enzyme und 3 bis 12 nicht-enzymatische Proteine und Peptide in jeder einzelnen Schlange. Die nicht-enzymatischen Komponenten, die sogenannte „Tötungsfraktion“, haben eine mittlere tödliche Dosis (LD50), die mehr als 50-mal kleiner ist als die des rohen Giftes.
Mehr als 60 gereinigte Polypeptide wurden in Crotalid-Giften identifiziert. Ungefähr 50 enzymatische Crotalid-Giftfraktionen wurden charakterisiert. Proteolytische Trypsin-ähnliche Enzyme, die durch Metalle (z.B. Kalzium, Magnesium und Zink) katalysiert werden, sind häufige Bestandteile von Grubenottergift und verursachen eine ausgeprägte Gewebezerstörung. Arginin-Ester-Hydrolase ist ein Bradykinin-freisetzendes Agens, das die Gerinnungsaktivität beeinträchtigen kann. Auch Thrombin-ähnliche Enzyme können eine erhöhte Gerinnungsaktivität vermitteln. Das Enzym Protease H aus dem Gift der Östlichen Diamantrücken-Klapperschlange (C. adamanteus) induziert systemische Blutungen.6 Fünf proteolytische Toxine aus dem Gift der Westlichen Diamantrücken-Klapperschlange (C. atrox) induzieren Blutungen durch Spaltung von Laminin und der Basalmembran an der Bande A.7,8 Crotavirin, das im Gift der Prärieklapperschlange (C. viridis viridis) vorkommt, ist ein potenter Thrombozytenaggregationshemmer und verhindert die Thrombozyten-Kollagen-Interaktion durch Bindung an Kollagenfasern. Die Störung der Thrombozyten-Kollagen-Interaktion hat den Nettoeffekt, dass kollagenvermittelte Thrombozytenfunktionen wie Adhäsion, Freisetzungsreaktion, Thromboxanbildung und Aggregation blockiert werden.9 Der vorherrschende Mechanismus der Afibrinogenämie, die bei einem Patienten nach einer Envenomie durch die Westliche Diamantrücken-Klapperschlange (C. atrox) beobachtet wird, spiegelt die Fibrinogenolyse wider und nicht eine primäre verbrauchende Koagulopathie. Die Fibrinogenolyse resultiert aus einer indirekten Aktivierung von Plasminogen durch den vaskulären Plasminogenaktivator.10
Unterschiede in Giften innerhalb einer Spezies, die durch das Alter der Schlange induziert werden, werden durch eine Studie an nördlichen pazifischen Klapperschlangen (Crotalus viridis organus) hervorgehoben, in der gezeigt wurde, dass die adulten Gifte eine ungefähr fünffach höhere fibrinogenolytische Proteaseaktivität aufweisen. Zwei Proteasebanden wurden in juvenilen und subadulten Schlangen identifiziert, und vier Banden wurden im adulten Gift mittels Gelfiltration identifiziert.11 Zinkmetalloproteinase mit fibrinolytischer Aktivität wurde aus dem Gift von Kupferköpfen (Agkistrodon contortrix) isoliert und wird Fibrolase genannt. Eine spezifische Fibrolase-Spaltstelle befindet sich in der Alpha-Kette von Fibrin. Die Komplexität des Themas der Variation von Giftkomponenten wird durch die gefundenen Unterschiede in der Fibrinolyse und Komplementinaktivierung von Giften verschiedener Schwarzschwanz-Klapperschlangen (Crotalus molossus molossus) verdeutlicht. In einer Studie mit 72 individuellen Schwarzschwanz-Klapperschlangengiften wurde die folgende Schlussfolgerung gezogen: Es gab keine Giftunterschiede in Abhängigkeit von der geographischen Verteilung; jedoch war die individuelle Giftvariabilität signifikant genug, um als wichtige klinische Realität erkannt zu werden.12
Hyaluronidase, die in den meisten Giften vorhanden ist, katalysiert die Spaltung interner Glykosidbindungen und Mucopolysaccharide, was zu einer Verringerung der Viskosität des Bindegewebes führt. Hyaluronidase wird gemeinhin als „Spreizfaktor“ bezeichnet, da dieser Abbau das Eindringen anderer Giftbestandteile in das Gewebe erleichtert. Kollagenase ist ebenfalls im Gift enthalten und seine Hauptfunktion ist die Verdauung von Kollagen und damit der Abbau von Bindegewebe.
Das Enzym Phospholipase A ist in allen Grubenotterngiften verteilt. Dieses Enzym katalysiert die Hydrolyse von Fettsäureesterbindungen in Diacylphosphatiden, die Lysophosphatide bilden und ungesättigte und gesättigte Fettsäuren freisetzen. Es gibt viele antigenisch unterschiedliche Isoenzyme. Über das Ausmaß möglicher neurotoxischer Wirkungen dieser Isoenzyme besteht eine gewisse Kontroverse. Viele zelluläre Substanzen können durch dieses Enzym freigesetzt werden, darunter Histamin, Kinine, slow-reacting substance, Serotonin und Acetylcholin. Das Ausmaß der Freisetzung dieser physiologisch aktiven Verbindungen hängt wahrscheinlich von der Fähigkeit der Phospholipase A ab, Membranen abzubauen. Das Enzym Phospholipase B kann ebenfalls vorhanden sein und ist für die Hydrolyse von Lysophosphatiden verantwortlich. Die Phosphodiesterasen, wie z. B. die Diesterphosphohydrolase, spalten das 5′-Mononukleotid ab und greifen damit DNA und RNA sowie Arabinose-Derivate an. l-Aminosäure-Oxidase katalysiert die Oxidation von l-alpha-Aminosäuren und l-alpha-Hydroxysäuren. Sie ist die aktivste der bekannten Aminosäure-Oxidasen und wurde in allen untersuchten Grubenviperngiften gefunden; sie ist für die gelbe Farbe des Giftes verantwortlich. Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD)-Nukleotidase wird in Agkistrodon, aber nicht in Crotalus-Gift gefunden. Das Enzym katalysiert die Hydrolyse der Nicotinamid-N-Ribosid-Bindungen von NAD und bildet dabei Adenosindiphosphat-Ribosid und Nicotinamid. Weitere Enzyme, die möglicherweise im Viperngift vorhanden sind, sind RNAse, DNAse, 5′-Nukleotidase und Laktatdehydrogenase. Direkte kardiotoxische Wirkungen von Giftproteinen wurden in einigen Grubenottergiften, insbesondere der Diamantklapperschlange, nachgewiesen.
Ein wichtiger Punkt ist, dass das Envenomationssyndrom die Komplexität des Giftes widerspiegelt. Der Körper muss auf die Wirkungen mehrerer Giftfraktionen reagieren, jede einzelne verstoffwechseln und mit der daraus resultierenden Unzahl von Metaboliten umgehen. Zusätzlich zu den individuellen pharmakologischen Eigenschaften dieser Proteine und ihrer Metaboliten wurde nachgewiesen, dass einige Komponenten synergistisch wirken und spezifische Effekte oder Reaktionen hervorrufen. Der Nettoeffekt dieser Interaktion des Giftes mit der Reaktion des Opfers ist ein metabolischer Eintopf aus toxischen Peptiden und Verdauungsenzymen. Zusätzlich sollte die traditionelle Kategorisierung von Grubenottern, dass sie nur hämatotoxische Gifte besitzen, neu bewertet werden, da einige Subpopulationen von Klapperschlangen nur neurotoxisches Gift besitzen.
Die durchschnittliche Klapperschlange benötigt 21 Tage, um verbrauchtes Gift wieder aufzufüllen. Die Peptide der „tödlichen Fraktion“ sind die ersten, die sich regenerieren. Dies ist eine weitere Variable bei einer gegebenen Vergiftung.